Vier Fakten über die spirituelle Dimension

1. Die spirituelle Dimension öffnet den Zugang zu Ebenen der menschlichen Existenz, welche eine fundamentale Bedeutung für das Individuum und die Menschheit haben und sich der rein rationalen Betrachtungsweise entziehen.

Während seiner Existenz auf dieser Welt muss der Mensch, um als Individuum und als Art überleben zu können, Fähigkeiten auf verschiedenen, ineinander übergreifenden und sich gegenseitig beeinflussenden Ebenen entwickeln: körperliche, intellektuelle, soziale, künstlerische, spirituelle etc.

In der westlichen Kultur ist heute die intellektuelle oder rationale Ebene mit einer materialistisch wissenschaftlichen Betrachtungsweise sehr hoch entwickelt. Mit Hilfe der Ratio kann der Mensch die Dinge erkennen, beschreiben und mit grossem Erfolg zu seinem Vorteil gebrauchen oder kontrollieren. Deshalb gilt diese Ebene heute als die wichtigste und zumeist die einzig bestimmende.

Es gibt allerdings wichtige Aspekte der menschlichen Existenz, welche sich der rein rationalen Betrachtungsweise entziehen. Darunter auch solche, welche eine existenzielle Bedeutung für das Individuum und die Menschheit als Ganzes haben, wie Ethik, Moral oder Sinn. Der bekannte Philosoph Karl Popper meint sogar, dass jede rationale Diskussion oder Handlung, einschliesslich der Naturwissenschaft, ethische Prinzipien voraussetzt, welche rein rational nicht fassbar sind1. Diese ethischen und moralischen Grundlagen unserer Geistestätigkeit, welche jenseits des rationalen Denkens liegen, haben ihren Ursprung in der spirituellen Dimension. Nur in der spirituellen Dimension ist die bewusste Erfahrung von ethischen und moralischen Prinzipien und von einem tiefen Sinn der menschlichen Existenz möglich2.

2. In allen Religionen und Kulturen weist die Erfahrung der spirituellen Dimension auf den gleichen Ursprung hin.

Das Wissen über die spirituelle Wirklichkeit beruht auf der direkten Erfahrung von Menschen in verschiedenen Kulturen und Traditionen, einschliesslich Frauen und Männer in der heutigen westlichen Kultur. Diese Erfahrung war auch die Basis für die Entstehung von Religionen.

Die Berichte über die Wahrnehmung dieser Wirklichkeit deuten darauf hin, dass es sich um die gleiche eine Wirklichkeit handelt3. Unabhängig davon, ob sie durch Mose, Buddha, Jesus oder durch die geistigen Väter und Mütter der christlichen Mystik und des Sufismus erfahren wurde. Auch die moralisch-ethischen Werte, zu denen die spirituelle Erfahrung dieser Menschen führt, zeigen kulturübergreifend eine grosse Übereinstimmung. So wird z.B. die bedingungslose Annahme und Liebe nicht nur im Christentum, sondern auch in Sufismus und auch schon in Hinduismus und Buddhismus als das höchste Prinzip betrachtet.

Auch auf dem kulturellen Hintergrund der zeitgenössischen Wissenschaft wird in der Tiefenpsychologie, Philosophie und Medizin über Erfahrungen der spirituellen Dimension berichtet. So schreibt z.B. Jon Kabat-Zinn, der Gründer einer auf Achtsamkeitsmeditation beruhenden therapeutischen Methode über die Erfahrung, zu welcher diese Meditationspraxis führt: “Achtsamkeit ermöglicht es jeder Erscheinung, in jenem Glanz zu leuchten, den das Wort ‘spirituell’ vermittelt.”4 Diese Erfahrung aufgrund einer Meditationspraxis, welche ohne einen direkten Bezug zu einer Religionslehre geübt wird (wohl aber unter Einbezug wichtiger ethischer und moralischer Werte), weist ebenfalls darauf hin, dass die spirituelle Dimension auf einen von einer bestimmten Religionslehre unabhängigen Ursprung zurück zu führen ist.

3. Ein direkter und bewährter Weg zur spirituellen Wirklichkeit ist die gegenstandslose Meditation.

Einen wichtigen Zugang zur spirituellen Dimension bietet die gegenstandslose Meditation. Dieser Weg, eine Art inneres Gebet, beruht auf Erfahrung von unzähligen Frauen und Männern, welche ihn während vielen Jahrhunderten in verschiedenen Kulturen und Religionen gegangen sind und welche durch ihn die spirituelle Wirklichkeit erfahren konnten. Der Weg ist aber nicht leicht. Es ist ein Weg zu sich selbst. Ein Weg, auf dem vieles abgelegt werden muss, was “den Grund der menschlichen Seele” - die Veranlagung zur spirituellen Erfahrung - zudeckt.

Die gegenstandslose Meditation wird ursprünglich vor allem in buddhistischen Schriften beschrieben, sie wurde aber auch in der christlichen Religion intensiv praktiziert und gelehrt. Heute wird sie als die zentrale Übung auch in dem oben erwähnten nicht religiös begründeten Programm verwendet, das von Jon Kabat-Zinn am Medical Center der University of Massachusetts entwickelt wurde. Es ist somit ein Weg, der in vielen Religionen (z.B. christliche Mystik, Zen-Buddhismus, Sufismus des Islams) und neuerdings auch losgelöst von einer Religion in der akademischen Welt (Medizin, Neurowissenschaften, Psychologie, Psychotherapie) beschrieben wurde. Es ist eine Erfahrung, welche jede Frau und jeder Mann machen kann unabhängig von ihrer oder seiner Weltanschauung und/oder Religion.

Was ist die gegenstandslose Meditation? Es ist eine Grundform der Meditation (meist im Sitzen, aber auch im Gehen), welche vielen spirituellen Wegen gemeinsam ist. Das ‘Ziel’ der gegenstandslosen Meditation ist ‘das leere Bewusstsein’. “Das Bewusstsein ist dabei hellwach, bindet sich jedoch an nichts. Der/die Übende lässt alles, was aufkommt, vorbeiziehen, und sein/ihr Bewusstsein wird immer mehr zu einem Spiegel, der alles reflektiert, sich jedoch mit nichts identifiziert. Es geht dabei um eine reine Aufmerksamkeit. Nicht um eine Aufmerksamkeit auf etwas, sondern um reine Präsenz.”5 Am Anfang hilft bei der Übung als Stütze für die Sammlung des Bewusstseins der Atem oder ein Wort. Das Bewusstsein fokussiert z.B. bei jedem Atemzug auf das Ein- und Ausatmen. Wenn Gedanken oder Gefühle auftauchen und den Geist ablenken, nimmt sie die meditierende Person ohne sich mit ihnen zu identifizieren wahr und kehrt das Bewusstsein immer wieder zurück zum Atem.

Es gibt auch andere Wege zur Erfahrung der spirituellen Dimension: z.B. Philosophie, die Jungsche Psychotherapie, Kunst, andere Formen des Gebets oder körperlich orientierte Wege wie Yoga. Diese setzen jedoch meist voraus, dass die spirituelle Veranlagung, die bei jedem Menschen vorhanden ist, nicht zu tief vergraben ist und dass der Mensch die Fähigkeiten besitzt, welche für diesen Weg notwendig sind (z.B. Begabung für die Kunst oder hohe intellektuelle Fähigkeiten für die Philosophie). Bei der gegenstandslosen Meditation ist die eigentliche Übung (achtsam sitzen in der Stille, frei sein von Gedanken) für jede und jeden zugänglich. Sie ist zudem dadurch, dass sie auf eine sehr lange Erfahrung zurückblickt, derjenige Weg, der am sichersten zum Ziel führt.

4. Jeder Mensch kann die spirituelle Wirklichkeit erfahren. Der Weg zu dieser Erfahrung ist jedoch lang und erfordert eine volle Hingabe.

Jeder Mensch, jede Frau und jeder Mann, hat eine spirituelle Veranlagung, welche sie und ihn befähigt, diese Wirklichkeit zu erfahren. Der Weg zu dieser Erfahrung ist jedoch lang und verlangt Ausdauer und Geduld. Es gibt Meditationskurse und -retreats, in denen die spirituelle Einstellung geübt werden kann und welche eine Begleitung durch erfahrene Lehrer anbieten. Lehrer und Kurse - obwohl wichtig und hilfreich - sind allerdings nur Wegweiser, welche die Richtung zeigen, gehen muss den Weg jeder und jede selber. In diesem Sinn kann die Erfahrung der spirituellen Dimension nicht wie ein rationales Wissen oder gar ein Konsumgut erworben werden. Nur die persönliche Erfahrung auf dem eigenen Weg führt zu der spirituellen Wirklichkeit. Diese Erfahrung ist unabhängig von der Weltanschauung. Weil es nur eine letzte Wirklichkeit geben kann und gibt, ist sie die Mitte und der Endpunkt aller Weltanschauungen. Die einzige und zugleich unverzichtbare Voraussetzung ist, den Weg zur spirituellen Dimension ernsthaft und mit voller Hingabe zu suchen und auch zu gehen.

Für alle Frauen und Männer, die diesen Weg mit voller Hingabe gegangen sind, ist er zum wichtigsten Bestandteil ihres Lebens geworden, der ihnen einen absoluten Halt und Lebenssinn gibt. Der Weg macht für sie das Leben allerdings nicht weniger schwer. Der Alltag bleibt für sie, wie für jeden anderen Menschen, mit Leid und Kampf verbunden und sie sind sich zudem des Leidens der Menschen in dieser Welt mehr bewusst. Sie haben aber jeden Tag neu den Zugang zur Quelle eines über allem stehenden Friedens, der auf dem Geschenk des tiefen Sinns und der bedingungslosen Liebe beruht. Der spirituelle Weg führt daher nicht zu einer höheren Lebensqualität wie sie herkömmlich (z.B. unter dem heute beliebten Wort Wellness) verstanden wird. Wohl aber zu einer anderen, neuen Qualität dank der Bereicherung des Lebens durch eine wichtige neue Dimension, welche der menschlichen Existenz einen tiefen Sinn und ein neues Verständnis für die gelebte zwischenmenschliche Liebe gibt.



  1Siehe Karl Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt.
  2Dementsprechend haben ethische und moralische Grundsätze in allen Kulturen ihre Wurzeln in der Religion (oder im Schamanismus).
  3Eine Zusammenfassung dieser Beschreibungen in verschiedenen Kulturen und Religionen findet sich z.B. bei A.Huxley: The Perennial Philosophy oder in den Kommentaren von Mahdev Desai in The Gospel of Selfless Action or The Gita according to Gandhi.
  4Siehe Jon Kabat-Zinn: Im Alltag Ruhe finden. Trotz dieser Aussage in seinem Buch bezeichnet der Autor selbst in seinen Kursen die Achtsamkeitsmeditation nicht als spirituelle Praxis, weil er fürchtet, es könnte zu Missverständnissen führen und diesem in der akademischen Medizin seit 20 Jahren etablierten, von religiöser Überzeugung und Weltanschauung unabhängigen und mit wissenschaftlichen Methoden überprüften Therapieverfahren schaden.
  5Willigis Jäger: Westöstliche Weisheit, Seite 97. Theseus Verlag 2007.