Die „spirituellen Begriffe“

„Denn Worte vermögen keiner Natur, die oberhalb ihrer ist, einen Namen zu geben.“ (Meister Eckehart, Deutsche Predigt 17)

In den Texten auf dieser Website werden Ausdrücke verwendet, die in der Alltagssprache ungewöhnlich sind, zum Beispiel: die absolute Liebe, der absolute Frieden, das eigentliche Selbst, das wahre Sein, das Absolute, Gott, der innere Grund usw. Dabei handelt es dabei um spirituelle Begriffe, also um Namen für Erfahrungen, welche Frauen und Männer mit ihrem ‚spirituellen Auge’ sehen. (Das ‚spirituelle Auge’ ist natürlich ebenfalls ein solcher spiritueller Begriff.)

Der Mensch kann diese spirituelle Dimension genauso direkt wahrnehmen wie die materiellen Dinge – als ob er z.B. einen Tisch mit dem ‚körperlichen Auge’ sähe. Um etwas über dieses Ding mitteilen zu können, verwenden wir den betreffenden Begriff. Wir sagen z.B.: „In bestimmten Kulturen wird am Tisch gegessen.“ Oder wenn wir die Sonne sehen, sagen wir z.B.: „Die Sonne geht jeden Morgen auf.“

Damit die Menschen kommunizieren können, müssen sie Begriffe verwenden. In den verschiedenen Sprachgebieten werden unterschiedliche Begriffe für die gleichen Dinge verwendet. Wenn es darum geht, uns zu verständigen, ist nicht nur die Sprache von Bedeutung, sondern auch die Kultur der betreffenden Menschengruppierungen. Ähnlich ist bei der Verwendung von spirituellen Begriffen nicht nur die Sprache massgebend für den Namen, mit dem eine konkrete Erfahrung bezeichnet wird, sondern auch die Kultur – in diesem Fall die Religionslehre oder die religiöse Tradition. So heisst das Absolute, die eine Wirklichkeit, im Christentum Gott, im Islam Allah, im Hinduismus Brahman usw.

Hinzu kommt, dass unsere Kenntnisse über die spirituelle Welt bruchstückhaft sind (übrigens gilt dies auch für die materielle Welt, selbst wenn wir uns dessen im Alltag meist nicht bewusst sind). Wir sehen oder ertasten – wie die Blinden in der alten Geschichte, welche gemäss Überlieferung Buddha erzählt haben soll1 – den Elefanten von verschiedenen Seiten. Das heisst aber nicht, dass der eine Recht hat und der andere nicht.

Aus diesem Grund ist es für eine verständliche Kommunikation unter den Religionen wichtig, mit Dingen zu beginnen, bei denen ein Missverständnis eher unwahrscheinlich ist. So wäre z.B. der Tisch kein geeignetes Ding, um sich darüber zu verständigen, da es Kulturen gibt, in denen es Tische in unserem Sinn gar nicht gibt. Zudem ist der Tisch etwas, was da sein kann oder nicht; ausserdem ist er ein Produkt der menschlichen Kultur, der menschlichen Hand. Die Sonne wäre ein besseres Beispiel dafür, um sich darüber zu verständigen, ob man auf dem gleichen Planeten lebt.

Die Sonne ist überall auf der Erde da. Im Spirituellen würde dies der Erfahrung des Absoluten entsprechen – einer Erfahrung, welche in vielen Religionen sehr ähnlich beschrieben wird2. Doch bezüglich des Erlebens der Sonne kann es ebenfalls grosse Unterschiede geben; dies würde sich zeigen, wenn wir z.B. die Inuit und ein Volk aus Zentralafrika bitten würden, Aussagen über die Sonne zu machen.

Eine Verständigung über spirituelle Dinge ausserhalb einer bestimmten Religionslehre ist daher meist schwierig. Diese Schwierigkeiten bedeuten aber keineswegs, dass sich die Religionen nicht auf die gleichen spirituellen Tatsachen beziehen.

Noch schwieriger ist es, spirituelle Erfahrungen Menschen zu kommunizieren, die sie nicht gemacht haben und die ihre Existenz primär als sehr unwahrscheinlich betrachten oder gar leugnen. Theoretisch müsste man gegenüber einer Frau und einem Mann, die keine bewusste Erfahrung mit spirituellen Dingen haben, möglichst allgemeine Begriffe verwenden, die von der Sprache abgeleitet sind, die in der materiellen und rationalen Welt verwendet wird. Dadurch würde die Beschreibung jedoch sehr kompliziert und konstruiert wirken. Zudem müssten dann philosophische Begriffe verwendet werden, die ebenfalls nur wenigen geläufig sind.

Aus diesem Grund wurden in den Texten die in der heutigen spirituellen Literatur üblichen Ausdrücke verwendet. Jedem Menschen, jeder Frau und jedem Mann wohnt eine – wenn auch vielleicht nicht in Worte fassbare – Veranlagung für das Spirituelle inne, die sich z.B. in der Suche oder der Sehnsucht nach Liebe, Schönheit, Glück und Sinn äussert. Ein Dialog ist also möglich; doch muss dabei mit entsprechender Umsicht kommuniziert – das heisst gesprochen und angehört – werden.



  1Die Blinden und der Elefant: Es war einmal – so erzählt Buddha – ein König von Benares. Der rief zu seiner Zerstreuung etliche Bettler zusammen, die von Geburt an blind waren, und setzte demjenigen einen Preis aus, der die beste Beschreibung des Tieres geben konnte, das vor ihm stand. Zufällig geriet der erste an dessen Bein und er berichtete, dass das Tier Beine wie Baumstämme habe. Der zweite, der den Schwanz erfasst hatte, meinte, das Tier sei so dünn wie ein Seil; es müsse eine Schlange sein, von der er schon gehört hatte. Der dritte hatte ein Ohr ergriffen und so stand für ihn fest, dass das Tier so flach wie ein Palmenblatt sein müsse. Und da keiner die Worte des anderen achtete, keiner seinen Standpunkt veränderte, jeder für sich die Wahrheit in Anspruch nahm, gingen sie im Streit auseinander. Und der König, der zuerst über diese blinden Narren gelacht hatte, gewann Weisheit über die Fragwürdigkeit seines eigenen Wissens, Denkens, Fühlens und seiner Herrschaft.
  2Siehe z.B. Aldous Huxley: The Perennial Philosophy, Chatto & Windus Ltd. London 1957.